Falsche Freiheit: Wenn wir Fake-Autonomie mit wahrer Autonomie verwechseln
- Sandra Reudenbach
- 20. Juli
- 5 Min. Lesezeit

In unserer modernen Welt wird Autonomie oft mit Unabhängigkeit verwechselt. Wir glauben, frei zu sein, wenn wir niemanden brauchen, wenn wir uns nirgends settlen, die Welt bereisen. Wenn wir sagen „Alles gut“, obwohl es in uns brodelt. Wenn wir lächeln, obwohl uns eigentlich zum Weinen ist. Doch was wir dabei häufig leben, ist keine echte Autonomie – sondern Fake-Autonomie. Und diese ist alles andere als frei. Daran ist garnichts frei. Freiheit ist ein großes Wort, und doch werden wir in eine Welt geboren, in der alles geregelt ist. Wir werden in verschiedenen Systemen groß, z.B, Familie, Bildung, Gesundheit und alles ist da. Das ist das, was wir kennen. Und doch ist die Welt so viel größer. Wie sollen wir überhaupt mit Freiheit umgehen, wie sollen wir eine gesunde Freiheit entwickeln, wenn wir niemals in Freiheit leben konnten, wenn wir bereits in ein Korsett an Regeln rein geboren werden und: wir von diesem Korsett zutiefst abhängig sind?
Was ist Freiheit – und was hindert uns daran, wirklich frei zu sein?
Freiheit ist eines der meistbenutzten, aber auch missverstandensten Konzepte unserer Zeit. Oft verwechseln wir Freiheit mit Autarkie – mit dem Recht, zu tun, was wir wollen, ohne Rücksicht, ohne Verantwortung, ohne Nähe. Doch diese Form von „Freiheit“ ist häufig nur eine Reaktion auf tiefe innere Unsicherheiten.
Der Psychoanalytiker Erich Fromm schrieb in seinem Werk „Die Furcht vor der Freiheit“ sinngemäß:„Freiheit bedeutet nicht nur, frei von etwas zu sein, sondern frei zu etwas – frei zu sein, man selbst zu sein.“
Wahre Freiheit ist also kein Zustand von Losgelöstheit, sondern ein bewusster innerer Prozess. Sie beginnt dort, wo wir in der Lage sind, unsere Ängste zu durchfühlen, unsere automatisierten Schutzmechanismen zu erkennen und trotzdem in Beziehung zu treten – zu uns selbst, zu anderen, zur Welt.
Was uns am meisten an echter Freiheit hindert, sind nicht äußere Umstände – sondern unsere unbewussten Muster. Bindungstrauma, alte Glaubenssätze, internalisierte Scham oder Angst vor Nähe wirken oft wie unsichtbare Fesseln. Wir glauben, frei zu sein, weil wir niemanden brauchen – doch in Wahrheit fliehen wir vor dem Risiko echter Begegnung.
Freiheit bedeutet, uns selbst nicht länger verraten zu müssen, um geliebt zu werden. Sie bedeutet, uns selbst auszuhalten – mit allem, was da ist – und genau damit in Verbindung zu bleiben.
Sie ist kein Ziel, sondern ein Weg. Kein Zustand, sondern eine tägliche Entscheidung. Und sie beginnt in dem Moment, in dem wir aufhören zu fliehen – und anfangen, wirklich hinzusehen.
Was ist Fake-Autonomie – und warum fühlt sie sich so leer an?
Fake-Autonomie ist ein Schutzpanzer. Eine Reaktion auf Erfahrungen, in denen unsere Bedürfnisse ignoriert, unsere Grenzen übergangen oder unsere Gefühle nicht gesehen wurden. Anstatt in Verbindung zu treten, vermeiden wir. Wir halten andere auf Distanz, schaffen uns Räume, in denen uns niemand berühren kann – weder körperlich noch emotional. Diese Art der vermeintlichen Unabhängigkeit entsteht oft unbewusst aus einem tiefen inneren Schmerz: dem Gefühl, nicht sicher zu sein in Nähe.
Vermeidung wird zum automatisierten Muster. Wir sagen „Kein Problem“, obwohl uns gerade alles zu viel ist. Wir ziehen uns zurück, sobald Begegnung intensiver wird. Wir erklären uns selbst zum souveränen Einzelgänger, der niemanden braucht – und leiden still an der Einsamkeit, die daraus entsteht.
Vermeidung ist kein Ausdruck von Stärke – sondern von Angst
Wenn Nähe unangenehm wird, ziehen wir uns zurück. Wir brauchen Zeit für uns, um durchzuatmen, um zu uns zu kommen. Das ist an sich gesund. Doch wenn diese Rückzüge immer wieder stattfinden, wenn sich ein Muster zeigt – Nähe, Rückzug, Distanz, dann wieder der Versuch, Kontakt aufzunehmen – dann ist das kein Ausdruck von echter Autonomie. Es ist eine Strategie, mit einem alten Schmerz umzugehen, den wir nicht fühlen können oder wollen.
Wir flüchten vor dem, was wirklich in uns ist: Angst, Schmerz, Sehnsucht nach Kontakt, Verletzbarkeit. All das darf nicht da sein, wenn wir in der Fake-Autonomie leben. Wir vermeiden nicht nur andere – wir vermeiden uns selbst.
Ein moderner Spiegel: Tinder und Online-Dating
Ein plakatives Beispiel für diese Dynamik ist Tinder. Online-Dating-Plattformen fördern ein Verhalten, das wie Autonomie wirkt, aber in Wahrheit oft emotionale Vermeidung ist. Wenn uns jemand nicht gefällt: Next. Wenn es zu nah wird: Blockieren. Wenn wir getriggert werden: Abbrechen. Meist passiert das in Stille und nicht in ehrlicher Kommunikation.
Wir kommunizieren nicht mehr ehrlich, sagen selten: „Irgendetwas an dieser Verbindung macht mir Angst.“ Stattdessen optimieren wir unsere Profile, kuratieren unsere Antworten und vermeiden jede Form echter Begegnung. Es ist die perfekte Bühne für Fake-Autonomie – und gleichzeitig der Ort, an dem unser Bindungstrauma am lautesten spricht.
Bindungstrauma – was es ist und wie es unser Verhalten prägt
Bindungstrauma entsteht in der frühen Kindheit, wenn unsere Bezugspersonen nicht zuverlässig, emotional präsent oder feinfühlig waren. Vielleicht waren sie selbst überfordert, abwesend oder emotional unerreichbar. Vielleicht wurde unsere Autonomie unterdrückt oder unsere Gefühle nicht gespiegelt. Das Nervensystem lernt dann: Nähe ist nicht sicher, meine Bedürfnisse bringen mich in Schwierigkeiten, ich muss mich anpassen oder zurückziehen, um zu überleben.
Das Fatale daran ist: Dieses alte Erleben wirkt in unseren heutigen Beziehungen weiter – meist unbewusst. Wir reproduzieren die Muster, die wir als Überlebensstrategien gelernt haben. Und so sabotieren wir oft die Verbindung, nach der wir uns eigentlich sehnen.
Vermeidender und ängstlicher Bindungsstil: Zwei Seiten der gleichen Medaille
Bindungstrauma zeigt sich in verschiedenen Bindungsstilen. Zwei der bekanntesten sind der vermeidende Bindungsstil und der ängstliche Bindungsstil. Beim vermeidenden Stil ziehen wir uns zurück, sobald es emotional wird. Nähe löst Stress aus. Intimität wird als einengend erlebt. Es ist das Muster der Fake-Autonomie: Ich brauche niemanden. Ich regel das allein.
Der ängstliche Bindungsstil dagegen klammert, sorgt sich ständig, verlassen zu werden, hat Angst, nicht genug zu sein. Hier ist das Nervensystem im Daueralarm. Auch das ist kein freies, autonomes Verhalten – sondern ein Ausdruck von früh gelernten Unsicherheiten.
Viele Menschen tragen beide Anteile in sich. Je nachdem, wen wir vor uns haben, wird mal der eine, mal der andere Stil aktiviert. Steht uns jemand nah, der selbst vermeidend ist, können wir in die ängstliche Rolle rutschen – und umgekehrt. Es ist ein energetisches Spiel, das sich immer wieder selbst bestätigt.
Was echte Autonomie wirklich bedeutet
Wahre Autonomie ist nicht laut. Sie braucht keine Abgrenzung in Form von Rückzug oder Härte. Sie ist ruhig, klar und verbunden. Echte Autonomie entsteht, wenn wir gelernt haben, mit unseren Gefühlen zu sein. Wenn wir sie nicht mehr vermeiden müssen. Wenn wir sie nicht auf andere projizieren, sondern sie als unsere erkennen und halten können.
Echte Autonomie bedeutet: Ich darf fühlen, was da ist – und gleichzeitig in Verbindung bleiben. Ich kann mich zeigen in meiner Angst, meiner Verletzlichkeit, meinem Wunsch nach Nähe – ohne mich selbst zu verlieren. Das ist emotionale Reife.

Emotionale Reife ist keine Perfektion – sondern Beziehungskompetenz
Emotionale Reife beginnt dort, wo wir bereit sind, hinzusehen. Uns selbst zu beobachten. Eine Meta-Ebene einzunehmen, die uns erlaubt zu fragen: Was passiert hier gerade wirklich? Was löst mein Gegenüber in mir aus – und woher kenne ich dieses Gefühl?
Wenn wir aufhören, unsere Trigger zu personalisieren, wenn wir begreifen, dass unser Partner nicht die Ursache, sondern der Auslöser für etwas Altes in uns ist, dann kann Verbindung entstehen – auch mitten im Schmerz.
Wir dürfen lernen, ohne Vorwürfe in Kontakt zu bleiben. Uns gegenseitig zu halten, auch wenn es unangenehm wird. Und ja, das ist schmerzhaft. Aber es ist der Weg aus der Wiederholungsschleife heraus – und hin zu echter Nähe und echter Freiheit.
Fake-Autonomie ist ein Schutzmechanismus – keine echte Freiheit
Solange wir unsere Autonomie auf Rückzug und Distanz gründen, leben wir in einem alten Muster. In Wahrheit sehnen wir uns nach Verbindung – aber wir haben Angst davor, weil sie früher mit Schmerz verbunden war.
Wenn wir erkennen, dass wir durch unsere Bindungsstrategien oft unbewusst flüchten, können wir beginnen, neue Wege zu gehen. Wege, in denen wir sowohl uns selbst als auch dem anderen Raum geben.
Denn wahre Autonomie beginnt da, wo Nähe möglich wird und zwar ohne dass wir uns selbst verlieren.




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